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Rezension: LOUISE, Prof. Dr. Sautermeister, Uni Bremen

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Beeindruckt hat mich die durchdachte Komposition im ersten Teil des Romans, der bis zum Tod der Mutter Louises reicht. Der Leser verfolgt gespannt die enge Bindung zwischen beiden weiblichen Figuren, die Anhänglichkeit der Tochter an die kranke Mutter, die bis zur Abhängigkeit reicht. Die Verknüpfung dieser Anhänglichkeit mit einer wachsenden Abhängigkeit hindert die Tochter bis in ihre Universitätsjahre daran, einen eigenen Lebensentwurf zu entfalten, gravierender noch: in ihre hingebungsvolle Pflege der Mutter mischen sich gelegentlich Aggressionen, die gewissermaßen die Rückseite der jugendlichen Aufopferung sind. Letztere geht ja bis zu dem Wunsch, sich mit der Mutter vollkommen zu identifizieren, sei es auch um den Preis des eigenen Todes. So einleuchtend dieser psychische Prozess ist, so bedrängend stellt er den Leser auf eine Geduldsprobe: Wann endlich, so fragt er sich, wird Louise die Kreisbewegung durchbrechen, die ihr vom Vater verordnet wurde und die ihr, der Tochter des Hauses, eine Aufgabenfülle zudiktiert, die sie auf der einen Seite mit konstanter Treue erfüllt, auf der anderen Seite jedoch mit dem quälenden Gefühl des eigenen ungelebten Lebens verfolgt.

Allerdings begegnet der ungeduldig nachfragende Leser aufatmend einer zweiten Kompositionsstruktur: der Erinnerung Louises an wesentliche Episoden aus der Vergangenheit der Familie Bourgeois. Die ohnmächtige Kreisbewegung Louises in der erzählten Gegenwart wird durch Rückblicke unterbrochen, die das unglückliche Familienleben immer schärfer erhellen. So wird etwa der sinnliche Genuss, dem der patriarchalisch auftretende Vater ungebremst nachjagt, aus den Entbehrungen und Verletzungen seines Kriegsdienstes verständlich. Und die rastlose Untreue, die er sich gegenüber seiner Ehefrau, Louises Mutter, zuschulden kommen lässt, wird zum Teil aus deren Krankheit und den dadurch bedingten Trennungen nachvollziehbar.
Solche vergangenen Ereignisse werden nicht en bloc nacherzählt, vielmehr fragmentarisch nach und nach in die Gegenwart eingeblendet, wie es einer modernen Erzählweise entspricht, so dass der Leser zum aktiven Mitspieler wird, der sich aus den Fragmenten und Splittern der vergangenen Zeit selbstständig ein Gesamtbild entwirft. Dabei begegnet er überraschenden Wendungen, die sein Unterhaltungsbedürfnis beleben und zugleich seine ethische Urteilskraft herausfordern: so, wenn aus Sadie, der einstigen Spielgefährtin Louises, eine Art Gouvernante wird, die anstelle der kranken Mutter das erotische Verlangen des umtriebigen Vaters stillt und parallel dazu die Rachephantasien und Todeswünsche Louises entzündet. Damit wird zugleich ein Muster des traditionellen Eheromans- die Gefahren der Untreue aufgegriffen und auf originelle Weise wiederbelebt.

Noch weiter in die Vergangenheit zurück führt das Motiv der romantischen Liebe, ebenfalls ein traditionsreiches Literaturthema. Die Erzählerin zeigt, dass die Eltern von Louise als Jugendliche ungleichen Alters zueinander entbrannten, sich aus traditionellen Bindungen couragiert lösten und nach Art des berühmten antiken Liebespaars Pyramus und Thisbe gesellschaftliche Konventionen sprengten. Gerade diese Episode stellt jedoch mehr als eine überlieferte und vergängliche Episode im Eheleben dar, sie enthüllt sich vielmehr als eine Mitgift für das spätere Leben Louises, die ihrerseits eine überwältigende Liebe kennenlernen wird.
Louises späteres Leben beginnt erst nach dem Tod der Mutter. Und es beginnt nicht sogleich und mit stürmischem Flügelschlag, sondern zögerlich und mit episodischen Rückschlägen. Hier setzt der zweite Teildes Romans ein, der demonstrativ ein sonst wenig geachtetes Krisenphänomen aufzeigt. Wir lösen uns von grundlegenden Epochen unseres Lebens selten schlagartig, sondern allmählich, in einem langwierigen Prozess des Abschiednehmens von alten Mustern. Es erscheint durchaus glaubwürdig, dass Louise den Tod ihrer Mutter wiederholt in ihrer Erinnerung heraufruft und ihr im Gedächtnis eine Treue hält, die nach und nach ihren früheren Zwangscharakter verliert. Es handelt sich hier um jene „Trauerarbeit“, die Freud so einlässlich analysiert hat.

Nicht weniger glaubwürdig mutet es an, wie Louise den jahrzehntelangen lähmenden Einfluss ihres Vaters nicht etwa mit einem ruckartigen Entschluss überwindet, sondern allmählich aus wachsender Distanz zurückdrängt, sich also von ihrem Vater Bewerber um ihre Hand vorführen lässt, ehe sie diese schließlich abweist.
Ihre Lebensbahn wird erst frei, als ein coup de foudre, ein Liebesblitz, sie ergreift und ihr nach intensiven wenigen Tagen die untrügliche, von allen Sinnen und allen guten Geistern beschützte Gewissheit gibt: dieser amerikanische Kunsthistoriker ist der für mich bestimmte Lebens- und Kunstgefährte. Jetzt wird das Liebesschicksal zwischen Pyramus und Thisbe und der Anfang der romantischen Liebe ihrer Eltern wirklich wahr: mit solcher Dringlichkeit wahr, dass schon nach 19 Tagen eine Hochzeit und kurze Zeit später Louises Auswanderung nach New York folgen kann.
Auf der neuntägigen Reise dorthin bezeugt sie die ihr eigene Gabe der Selbstüberprüfung, indem sie die Trauer des Abschiednehmens von Paris, der Familie, den Freunden dort mit der Erwartung eines neuen Lebens verknüpft, das ihrer Liebe und ihrem Künstlertum angemessen ist. Dafür prägt sie eine wohlformulierte Quintessenz:“Mein eigenes Terrain Schritt für Schritt wiedererobern, um mich neu zu finden.“ (S.200)

Louises Reise findet zu einem weltgeschichtlich explosiven Zeitpunkt statt: der auf einen Krieg zielenden Naziherrschaft, die zahlreiche Europäer, darunter alle jüdischen Mitbürger, zu politisch und „rassisch“ unerwünschten Zeitgenossen macht und sie eine neue Heimat suchen lässt. Unüberhörbar klingt im neuen Lebensabschnitt der Louise Bourgeois ein Drama von heute an.

Der Lebensbogen, den die Erzählerin von der Kindheit ihrer Protagonistin bis zu ihrer Auswanderung schlägt, ist nicht nur psychologisch aussagekräftig, er besticht auch durch stilistische Sorgfalt. Die im Roman vorherrschende Rede- und Mitteilungsform ist der innere Monolog Louises, der ihren Bekenntnissen Unmittelbarkeit und Spontaneität verleiht, aber auch ihre Unentschlossenheit und ihre langwährende Suche nach ihrer Selbstbestimmung authentisch widerspiegelt. Keineswegs entschwindet bei dieser Identitäts-Suche Louises Außenwelt. Dank ihrer sinnlichen Wahrnehmungskraft hält sie diese Welt prägnant fest. Ob sie die Dinge im Krankenzimmer der Mutter oder die nächtliche Landschaft beschreibt (vgl.S.162), ob sie „Straßenschluchten“ in New York erträumt (S.174) oder die transatlantische Abfahrt des Schiffs vorführt (S.186 f.) – stets vermittelt ihre visuelle oder akustische Wahrnehmungsschärfe den Gegenständen Leben und plastischen Umriss. Musikalisch-vokalische Einlassungen verschaffen darüber hinaus manchen Sätzen besonderen Wohlklang. „Ich kann noch immer nicht glauben, dass ich auf diesem Schiff zu dir brause, rausche, schaukele.“ (S.196) Und die Durchbildung von Satzgliedern zu rhythmischen Einheiten verbürgt da und dort der syntaktischen Konstruktion eine fühlbare Schwingung. Kurz, die Prosa der bedrückenden Familienverhältnisse wird durch sinnliche Gegenständlichkeit fasslich konturiert und durch poetische Stilelemente wiederholt aufgelockert. Ein lesenswerter Roman.

Bremen, 16.4.2024
Prof. Dr. Gert Sautermeister,
Professor(em.) für Neuere Deutsche Literatur, Universität Bremen