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Zeit der Habichte

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Es ist heiß hier und still. Man hört einfach alles. Man hört den heißen Wind, das Zittern der Desert Oaks. Die schnellen Propellerbewegungen der Fliegen. Man hört, dass niemand kommt.Dabei habe ich die ganze Zeit das Gefühl, dass ich beobachtet werde, als wüsste jemand, dass ich hier bin. Als sähe er es am Zittern der Bäume, an den Zeichen im roten Sand, am Flüstern des Windes. Wahrscheinlich ist er nicht weit. Ich könnte seinen Atem hören. Aber er scheint nicht zu atmen, wie ich. Er braucht nicht zu atmen. Es ist zu heiß. Er weiß, die Luft verbrennt alles.Ich hab überall am Straßenrand seine Zeichen gesehen. Hängende Autoreifen an den weißen Zweigen der Eukalyptusbäume, Steine zu Türmen aufgeschichtet. Steinspuren. Irgendwo in der roten Erde horcht er auf meine Schritte. Er weiß, dass ich nicht mehr lange durchhalten kann, wenn niemand über diese Straße kommt und mich mitnimmt. Er hat Zeit und die Gabe, Erinnerungen aufzuspüren. Er kann sie riechen. Er kann sie hören. Er spürt ihre Schwingungen. Er hört die Schwingungen meiner Fußabdrücke.
Als ich hierher fuhr, dachte ich nur an Henry, ich ahnte nichts von diesem unbekannten Spurenleser. Merkwürdig, dass ich trotzdem ruhig bin, seltsam ruhig, als schaute ich mir selber zu. So wie der Mann, der in der Wüste sein Fotostativ aufbaut und mit einem Selbstauslöser alles festhält, was er tut: wie er sich ans Auto lehnt, das bis über die Reifen im Sand feststeckt; wie er sich hinkniet, um unter das Blech zu greifen, als könne er das Auto einfach aus dem Sand heraustragen; seine Feldflasche, die er mit der Öffnung nach unten in die Kamera hält; sein Gesicht so nah, dass man nur Hautkrater um die Augen erkennen kann.“

„Die Fliegen werden immer aufdringlicher. Sie riechen meinen Schweiß. Mein Top, mein Rock, alles klebt mir am Körper. Im Auto liegen noch ein paar Zeitungen, die ich für den Flug von Sydney nach Alice Springs gekauft habe. Ich schlage um mich, wedle mir Luft zu, aber kaum sind die Fliegen dem Lufthauch ausgewichen, lassen sie sich erneut auf meiner Haut nieder. Ich bekomme kaum noch Luft. Der Wind bläst mehr und mehr roten Staub in meine Lunge, als wolle er mich Schicht um Schicht von innen auffüllen. Und als aus der Ferne eine rote Staubwelle auf mich zukommt, vor der ich mühsam Schutz hinter meinem Camper suche, sehe ich all die toten Rinder und Kängurus vor mir, die am Straßenrand vertrocknet in der Hitze lagen und langsam zerbröselten, und ich frage mich, ob Menschen in dieser Gegend keine Spuren hinterlassen und niemals gefunden werden, weil sie sich in roten Staub verwandeln, und ob die Toten als Staub um mich herum fliegen, während der Road Train mit seiner Riesenstoßstange und drei Anhängern an mir vorbeirast und alles niederwalzt, was sich ihm in den Weg stellt?Und als mehr und mehr roter Sand auf meiner Haut klebt, Augen und Haare überzieht, als wolle er mich nach und nach einhüllen, allmählich zudecken, bis ich am Ende unsichtbar an dieser Straße stünde, von der ich nicht mal sicher sagen kann, ob sie die Richtige ist und mich ans richtige Ziel bringt, da reiße ich in Panik die Wagentür auf, gieße mir Wasser über den Kopf, übers Gesicht, über Hals und Brust, verreibe es mit den Händen, halte wieder die Flasche über den Kopf, bis der letzte Tropfen raus ist, und erst da wird mir mit einem Schlag klar, dass ich soeben meine letzte Flasche Wasser verbraucht habe.(…)
 
(Aus:  Ursel Bäumer,  Zeit der Habichte, 2011 Dörlemann Verlag, Zürich)“

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